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Interview zum Krieg in der Ukraine
„Hier soll ein Staat mit seiner ganzen Bevölkerung niedergerungen werden“

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Woher nimmt Putin die Überzeugung, dass die Ukraine ein künstliches Gebilde und im Prinzip russisches Gebiet ist? Ist das reine Rechtfertigungsrhetorik für den Angriff oder eine ernsthaft verwurzelte Haltung?

Anscheinend leidet Putin unter postimperialem Phantomschmerz und befindet sich auf einer historischen Mission, die, imperialistisch und revisionistisch zugleich, die einstige historische Größe des Russischen Imperiums wiederherstellen will. Er möchte für „historische Gerechtigkeit“ sorgen, indem zunächst die slawischen Bruderstaaten unter russischer Führung wiedervereinigt. Im Fall von Belarus ist er ja schon weit gekommen und findet in Lukaschenko einen treuen Vasallen. Die Ukraine will er mit brutaler Gewalt in die inferiore Position, die sie aus russischer Sicht immer einzunehmen hatte, zurückzwingen. Sein großrussischer Chauvinismus äußert sich auch sprachlich, indem er die Ukraine als „Kleinrussland“ zu titulieren pflegt. 

 

Das heißt, seine Pläne, ein russisches Großreich zu schaffen, sind nicht ganz neu?

Bereits im Jahr 2005 hat Putin den Zerfall der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet. Er denkt spätestens seitdem geopolitisch und will die Geschichte zurückdrehen. Dabei helfen ihm durch nichts zu rechtfertigende Behauptungen wie die, dass die Ukraine kein richtiger Staat sei. Seinen Anspruch auf deren Territorium begründet er essentialistisch mit dem Verweis auf die gemeinsame Kultur, Religion und Sprache – als sei das Ukrainische keine selbstständige Sprache. Für Putin sind die Ukraine, Belarus und Russland Teile der „Russischen Welt“, als deren Führer er sich betrachtet.

 

Was sind Ihrer Meinung nach seine langfristigen Pläne?

Für die Zukunft schwebt ihm wohl so etwas wie ein eurasischer Großraum unter russischer Führung als Gegenpart zum transatlantischen Westen vor. Darin steckt eine Drohung, die man nicht einfach als Ausdruck wilder Fantasien abtun sollte.       

 

Ist das eine Erfindung Putins oder denken weite Teile der russischen Bevölkerung genauso?

Viele Russen fühlen sich sowohl kulturell, religiös, historisch als auch durch Familien- und Freundschaftsbeziehungen mit der Ukraine und ihrer Bevölkerung verbunden. Trotzdem wirken die Argumente Putins, die jetzt als Begründung für die Invasion herhalten müssen, den Russen über die Staatsmedien aber schon seit Jahren tagein tagaus eingeimpft wurden, auf eine große Zahl von Menschen. So etwa die dreisten Lügen über die „faschistische Junta“, die in Kiew an der Macht sei oder den „Genozid“, der angeblich an der russischen Bevölkerung in der Ukraine verübt werde.   

 

Lässt dies einen Rückschluss darauf zu, wie weit er möglicherweise gehen wird?

Was die Ukraine betrifft, so ist das sehr schwer zu prognostizieren, aber ein Rückzug ohne greifbaren und propagandistisch verwertbaren „Gewinn“ für Putin scheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht vorstellbar. Die Gesetzesverschärfungen der letzten Tage deuten darauf hin, dass das Regime inmitten des von ihm begonnenen Krieges auch vor härtesten Repressionen gegen die eigene Bevölkerung nicht zurückschreckt. Hier scheint es bis zur vollendeten Errichtung einer lupenreinen Diktatur keine Grenze mehr zu geben. Zudem richten sich die Strafandrohungen der neuen Mediengesetze auch gegen ausländische Journalisten – ein Signal, das den Westen dazu bewogen hat, seine Sendungen aus Russland vorerst einzustellen. Dies ist ein klarer Bruch mit allen bisher gültigen Konventionen.

 

Konterkariert ein Angriff nicht dieses Narrativ, da er im Umkehrschluss sein eigenes Volk bombardiert?

Bei der Invasion geht es um Macht: In der Sicht Putins ist die Ukraine, die sich auf einen pro-westlichen Kurs begeben hat, abtrünnig geworden und muss dafür hart bestraft werden. Wie die Nachrichten aus den angegriffenen Städten deutlich zeigen, sind keineswegs nur militärische oder sonstige wichtige Einrichtungen das Ziel der Aggression, sondern vor allem die Zivilbevölkerung – ohne Unterschied, ob es sich um ukrainischsprachige Ukrainer oder russischsprachige Ukrainer bzw. ethnische Russen (die beiden letztgenannten Gruppen werden dabei von Putin als „unsere Landsleute“ vereinnahmt) handelt. Hier soll ein Staat mitsamt seiner ganzen Bevölkerung niedergerungen werden.  

 

Kann und will das russische Volk ihn stoppen oder steht es (wegen der fehlenden oder falschen Informationen) hinter ihm?

Die russischen Staatsmedien, insbesondere das Fernsehen, haben seit der „Orangen Revolution“ von 2004, als die Ukrainer massenhaft und erfolgreich gegen die Fälschung der Ergebnisse der Präsidentschaftswahl auf die Straße gegangen sind, eine hasserfüllte antiukrainische Propaganda betrieben. Sie wird vor allem bei älteren Menschen, die nur staatliche Informationsquellen nutzen, ihre Spuren hinterlassen haben. Das heißt aber nicht, dass die russische Bevölkerung einen Krieg gegen die Ukraine, in der sehr viele Russen Verwandte und Freunde haben, befürworten würde. Allerdings nimmt die russische Propaganda das Wort „Krieg“ auch nicht in den Mund, sondern spricht von einer „Friedensmission“ oder einer „Spezialoperation“.

Unterstützt wird Putins erlogene Argumentation für den Einmarsch in die Ukraine dabei ganz offen von seinem Bewunderer, dem Oberhaupt der Russischen Orthodoxen Kirche – Patriarch Kirill – , der in seiner ersten Sonntagspredigt in Moskau nach Kriegsbeginn die Gegner der russischen Invasion in der Ukraine als „Kräfte des Bösen“ verleumdete und die ukrainischen Soldaten beschuldigte, die historische Einheit zwischen beiden Ländern zerschlagen zu wollen. Wie viele Gläubige ihm bei dieser religiös-übertünchten Befürwortung der Aggression folgen, ist schwer zu sagen. In den eigenen Reihen steht Kirill allerdings nicht unangefochten da; es gibt einige Proteste von Seiten russisch-orthodoxer Priester und Mönche.      

 

Sehen Sie denn weitere kritische Stimmen gegen Putins Kurs?

Vertreter der kritischen Öffentlichkeit wurden in Russland schon seit langen Jahren verunglimpft, drangsaliert und verfolgt; einige ihrer mutigsten und profiliertesten Persönlichkeiten sitzen im Lager oder wurden sogar ermordet. Ein trauriger Höhepunkt der Verfolgung und Mundtotmachung der Zivilgesellschaft war das Verbot des russischen Zweigs der Menschenrechtsorganisation MEMORIAL International mit Hauptsitz in Moskau am 28. Dezember letzten Jahres. 

Gleichwohl gab es unmittelbar nach dem russischen Überfall auf die Ukraine sehr mutige kritische Stimmen von Wissenschaftler*innen, Jurist*innen und Journalist*innen, die in offenen Briefen die Invasion umgehend verurteilt haben. Insbesondere das Schreiben der Wissenschaftler*innen, das bis Ende letzter Woche 7.000 Unterschriften bekommen hatte, war an Schärfe nicht zu überbieten. Eine deutsche Übersetzung finden Sie hier

In Dutzenden russischer Städte hat eine wachsende Zahl von Menschen gegen den Krieg wie gegen Putin demonstriert, mehr als zehntausend Personen sind bisher verhaftet worden. Die dramatischen Gesetzesverschärfungen der letzten Tage, die für solche Proteste fünf Jahre Freiheitsentzug vorsehen, die Mediengesetze vom letzten Freitag, die für die Verbreitung von „Fake News“ (gemeint ist damit die Wahrheit über den Verantwortlichen für den Krieg und seine zivilen Opfer in der Ukraine) sogar 15 Jahre Freiheitsstrafe androhen, richten sich nicht nur gegen die russische Bevölkerung, sondern auch gegen Ausländer. Sollten sie die beabsichtigte Wirkung, jede abweichende Meinung, jeden noch so friedlichen Protest zu unterbinden, jedoch verfehlen, ist ein noch radikalerer Kurs zu erwarten.

Putin schneidet seine eigene Bevölkerung, nicht zuletzt durch das Verbot von Twitter und Facebook, von allen anderen als den staatlichen Informationsquellen ab und setzt sie gleichzeitig so harten Repressionen aus, wie sie weder in der Sowjetunion im Kalten Krieg nach Stalins Tod noch bis vor kurzem in Russland denkbar waren. Sie werden ihre Wirkung wahrscheinlich nicht verfehlen. Eine dramatische Verschlechterung des Lebensstandards der russischen Bevölkerung oder ihre Konfrontation mit dem Tod tausender russischer Soldaten beim Überfall auf die friedliche Ukraine könnte aber eine veränderte Situation schaffen.     

 

Wie ist es mit den Oligarchen?

Keiner der Oligarchen hat bisher den Krieg öffentlich verurteilt und sich von Putin distanziert. Sie alle sind Teil des Herrschaftssystems – Putins Geschöpfe – die durch Staatsaufträge (vor allem im Energiesektor) zu immensem Reichtum gekommen sind. Anders als die Oligarchen der Jelzin-Zeit sind sie keine politisch einflussreichen, mächtigen Männer mehr, sondern Superreiche von Putins Gnaden, dessen Herrschaft sie absichern helfen. Im Austausch für ihre politische Enthaltsamkeit ließ Putin sie gewähren. Ihre Vermögen flossen nicht in nützliche Investitionen im eigenen Land, sondern wurden ins Ausland transferiert und für Geldanlagen bei ausländischen Banken oder zum Erwerb von privat genutzten Luxusgütern wie Yachten, Fußballclubs und Prachtimmobilien verwendet. Wegen der drohenden Beschlagnahmung von Vermögen und Besitztümern auf Grund der Sanktionen sind die Oligarchen nun nervös geworden und versuchen, so viel wie möglich durch schnelle Verkäufe und/oder undurchsichtige Transaktionen zu retten. Das scheint ihnen wichtiger zu sein als eine klare Haltung gegenüber Putin.

Die kritischen Töne von Michail Fridman, Oleg Deripaska, Alexej Mordaschow und Oleg Tinkow blieben verhalten und verurteilten weder Putins Krieg gegen die Ukraine noch zeugen sie von Mitgefühl für das „Bruderland“ und seine Menschen. Das Motiv dürfte vielmehr ein eigennütziges sein. Ob die Ankündigung von Roman Abramowitsch, den Erlös aus dem geplanten Verkauf seines Fußballclubs FC Chelsea „allen Opfern des Krieges“ zu spenden, sich bewahrheitet und wer letztlich davon profitieren wird, bleibt abzuwarten. Insgesamt sollen solche Äußerungen wohl eher dazu dienen, den Oligarchen bei ihrem bereits angekündigten Versuch, die Sanktionen juristisch anzufechten, eine bessere Ausgangsposition zu verschaffen.       

Die wichtigen in Russland ansässigen Unternehmer und Bankchefs, die Putin am Abend des 24. Februar im Kreml versammelte, schwor er ebenfalls auf den Krieg ein. Sie dürften verstanden haben, was ihnen drohen würde, sollten sie es wagen, ihm zu widersprechen. 

 

Gibt es eine Gruppe in Russland, die Ihrer Meinung nach beitragen könnte, den Krieg zu beenden? Oder gibt es außerhalb Russlands einen Gesprächspartner, der Putin von seinem derzeitigen Kurs abbringen könnte?

Im Moment gibt es wenig Grund für Optimismus: China will diese Rolle offensichtlich nicht übernehmen. Ob und wann es im Innern des Machtapparates zu bröckeln beginnt, lässt sich derzeit kaum vorhersagen. Die in Russland ausgestrahlten Bilder vom Treffen Putins mit seinem Nationalen Sicherheitsapparat am 23. Februar zeigten eine servile Runde mit einzelnen verängstigten Mitgliedern und Putin als aggressiv-zynischen Boss – es erinnerte an einen Mafia-Clan. Die Stimmung im Land kann natürlich dann kippen, wenn den Menschen bewusst wird, dass der russische Präsident der Aggressor ist, der für gewaltige Zerstörungen und unendliches Leid verantwortlich ist.    

 

Autor/in:
Kategorie/n: Schlagzeilen, Pressemeldungen, Alumni-News
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Prof. Dr. Beate Fieseler

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